Schüler als Mörder: Was Amokläufer antreibt
Columbine und Blacksburg, Erfurt und Winnenden - sind Amokläufer stets killerspielsüchtige Außenseiter? US-Psychologe Peter Langman untersuchte zehn Fälle und warnt vor schlichten Erklärungen. Im Interview beschreibt er die Täter als psychisch schwer gestörte Jugendliche.
SPIEGEL ONLINE: Herr Langman, alle Amokläufer liebten brutale Computerspiele, hatten keine Freunde, Probleme mit Mädchen und ein zerrüttetes Elternhaus...
SPIEGEL ONLINE: Aber die Täter wurden gemobbt und haben sich dafür an der Gesellschaft gerächt - so weit diesmal richtig?
Langman: Nein. Mobbing war oftmals eher eingebildet als real. Eric Harris etwa war durchaus beliebt, elf Tage vor der Tat hatten ihn Freunde eingeladen, um seinen 18. Geburtstag zu feiern. Natürlich wurde er geärgert, aber das wurden andere auch. Rache scheidet als Motiv aus, denn er tötete wahllos. Ein anderer, Kip Kinkel, ermordete im Alter von 15 Jahren zuerst seine Eltern, kannte aber seine weiteren Opfer in Springfield nicht. 1998 erschoss er an der Thurston High School zwei Schüler und verwundete weitere 21, die ihm nichts getan hatten. Diese Schüler-Amokläufer waren geistig krank - psychopathisch, psychotisch oder traumatisiert.
SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet das genau?
Langman: Eric Harris war psychopathisch und sadistisch, er wollte anderen Menschen Gewalt antun. Er war amoralisch, hasste die Welt, verachtete die Zivilisation. Er wünschte sich, Gott oder wie ein Gott zu sein - über Leben zu bestimmen. In seinem Tagebuch schrieb er davon, wie er Hunderte von Bomben legt, Flugzeuge kapert und damit New York angreift. Das war weit vor dem 11. September.
SPIEGEL ONLINE: Und der psychotische Typus?
Langman: Das wäre einer wie Kip Kinkel: Er hörte Stimmen, die ihm einredeten, er müsste sich selbst töten oder andere. Außerdem leiden psychotische Amokläufer oftmals an Schizophrenie oder Paranoia. Sie glauben an Monster oder wie Kip Kinkel, dass die US-Regierung Menschen Chips ins Gehirn pflanzt - Verfolgungswahn. Kip Kinkel, der überlebte und zu 111 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, war verloren in seiner Welt, die nicht die unsere war, und er fühlte diese Verlorenheit.
SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt doch Amokläufer mit familiären Problemen?
Langman: Ja, der traumatisierte Typus kommt oft aus zerrütteten Elternhäusern, hat Alkoholismus und Gewalt erlebt. Jeffrey Weise beispielsweise erschoss 2005 als 16-Jähriger an der Red Lake High School neun Menschen und dann sich selbst. Er wohnte abwechselnd bei mehreren Verwandten, seine Mutter kam immer wieder wegen Trunkenheit am Steuer ins Gefängnis. Mit acht Jahren erlebte er, wie sein Vater bei einer Schießerei mit der Polizei starb. An der Schießerei war auch Jeffreys Großvater beteiligt - auf der anderen Seite, als Polizist. Seine Mutter misshandelte Jeffrey schwer. Dieser Junge kannte keine Geborgenheit. Er war später depressiv, unternahm Selbstmordversuche, ritzte sich die Arme auf. Er empfand sein Leben als einzigen Schmerz.
SPIEGEL ONLINE: Und er hatte ein Faible für Hitler, wie einige andere Amokläufer auch. Warum?
Langman: Eric Harris, aber auch Jeffrey Weise wollten sich mit einer Quelle der Macht identifizieren. Ihnen imponierte das Konzept des Herrenmenschen, auch sie wollten der Welt überlegen sein. In ihrer Schwäche konnten sie sich mit dieser vermeintlichen Stärke identifizieren. Dazu kommt noch, dass Eric Harris mit zwei kleinen körperlichen Defekten lebte. Er hatte als Kleinkind ein defektes Bein und litt unter einer Trichterbrust. Das wirkte lange, er fühlte sich nicht attraktiv, sondern schwach.
SPIEGEL ONLINE: Warum sind alle Amokläufer männlich?
Langman: Sind sie nicht - 1979 gab es eine Schülerin namens Brenda Spencer, die aus einem Schulgebäude auf Leute schoss. Aber trotzdem ist es richtig, die meisten sind männlich. Was auffällt: Viele kamen aus Familien, in denen Waffenbesitz normal war. Zudem suchten sie, wie Eric Harris, Macht. Macht, besonders männliche Macht wird in unserer Kultur oftmals durch die Ausübung von Gewalt, auch mit Waffen dargestellt - in Western, Actionfilmen, Polizeiserien.
SPIEGEL ONLINE: Tagebücher, Internetseiten - viele Täter führen Aufzeichnungen. Sollen Eltern ihren Kindern hinterherschnüffeln?
Langman: Das ist in der Tat ein Problem. Eltern räumen Jugendlichen Privatsphäre ein, und wenn die gebrochen wird, reagieren Teenager natürlich empfindlich. Aber ich rede nicht von grundlosem Schnüffeln. Eric Harris zum Beispiel wurde festgenommen, war Waffenfetischist und liebte Gewaltfilme. Kip Kinkel hielt in der Schule einen Vortrag über Bombenbau. Die Eltern haben nicht reagiert - sie haben nur den Pay-TV-Kanal mit den Filmen gekündigt. Sagen wir es so: Wenn im Zimmer des Sohnes eine Rohrbombe gefunden wird, sind regelmäßige Kontrollen okay.
SPIEGEL ONLINE: Können erhöhte Sicherheitsmaßnahmen Schulen wirklich schützen?
Langman: Kameras helfen gegen Leute, die unerkannt bleiben wollen, etwa Diebe. Amokläufe sind aber keine geheimen Taten, sondern bewusst öffentlich. Metalldetektoren nützen wenig, wie auch Wachmänner. An der Schule von Jeffrey Weise gab es Metalldetektoren und Wachmänner. Jeffrey erschoss einen von ihnen, auch der Metalldetektor hielt ihn nicht auf.
SPIEGEL ONLINE: In Deutschland fordern Politiker das Verbot sogenannter Killerspiele. Ein sinnvoller Vorstoß?
Langman: Millionen von Teenagern beschäftigen sich in ihrer Freizeit mit Computerspielen und sind harmlos. Natürlich war jemand wie Eric Harris von gewalttätigen Spielen fasziniert, er liebte "Doom", aber auch brutale Filme. Das war indes nicht die Ursache, sondern Folge seiner Erkrankung. Wären diese Filme oder Spiele verboten, würden potentielle Amokläufer auf andere Medien ausweichen, beispielsweise auf Bücher über Nazis.
SPIEGEL ONLINE: Im Falle einer Ahnung, dass jemand durchdrehen und ein Massaker anrichten könnte: Was kann jeder tun?
SPIEGEL ONLINE: Wie viele potentielle Amokläufer sind darunter?
Langman: Pro Jahr ein oder zwei. Die kommen in eine spezielle Einrichtung und machen dort Einzel- und Gruppentherapien, manche erhalten Medikamente. Sie gehen nebenher zur Schule, und wenn die Behandlung erfolgreich war, dürfen sie nach Hause. Das dauert meist ein paar Monate. Ich verliere dann in der Regel den Kontakt, aber mit einem habe ich letztens gesprochen - er hat sein Leben wieder im Griff und ist dankbar dafür.
Das Interview führte Mathias Hamann
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Peter Langman: "Amok im Kopf"
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